Unter dem Titel «Ausbrecherkönigin» erzählt Léa in einem ganzseitigen Inserat über ihren Ausgleich zum stressigen Alltag. Sie fährt mit ihrem Bus in die Berge und erklimmt 4’000er. Die Werbung läuft im Auftrag von auto-schweiz, dem Verband der 35 Generalimporteure von Autos. Ein cleveres Marketing, das fragt welche Beziehung die Schweiz zum Auto hat und gleichzeitig antwortet: «das Auto schenkt ein Gefühl der Freiheit». «Was macht uns glücklich», fragt der Verband für Ausbildungsfachleute im neusten Newsletter. Es wird nicht erwartet, dass wir darüber nachdenken. Der Verband kennt die Antwort bereits: ein Kurs in positiver Psychologie. Zwei Beispiele, die durch ihr Muster den Leser, die Leserin einladen, mitzudenken. Das Mitdenken wir aber gleich wieder auf Stand-By-Modus gesetzt. Damit steht zwischen den Zeilen folgende Botschaft: «nur keinen Stress, alles im Griff. Wir antworten und du bist glücklich, fühlst dich frei und deine Wäsche ist sauber.» Alles nur Werbung? Ja und nein. Denn diese Kommunikationsmuster wirken auf uns, ohne dass deshalb gleich das neoliberale Wirtschaftssystem ‘profit over people’ kritisiert werden muss. Die Analyse ‘Zwischen-den-Zeilen’ teilt uns mit, dass persönliche Fragen zwar gestellt werden, die Antworten aber nicht von uns persönlich, sondern von einer anderen Instanz gegeben werden. Das Muster sagt uns: herausfordernde Fragestellungen zum eigenen Leben werden für uns von jemandem gelöst. Ob Bücher, Promis oder Management-Gurus – auf eine herausfordernde Frage folgt sogleich die richtige Antwort. Doch statt Antworten, könnten wir die Fragen lieben. Rilke lädt dazu ein. Was mich bewegt
von Rainer Maria Rilke Man muss den Dingen, die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann; alles ist austragen – und dann Gebären. Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Man muss Geduld haben, gegen das Ungelöste im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forsche jetzt nicht nach Antworten, die dir nicht gegeben werden können, weil du sie nicht leben kannst, und es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein.
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AutorinAstrid Frischknecht Archiv
December 2023
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